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Der kleine historische Jahresrückblick: 2017 (1)

Fisch des Jahres 2017: Die Flunder

Himmelherrgott, noch ein Jahresrückblick, liebe Leserinnen und Leser? Um ehrlich zu sein, dies ist eher eine spontane Eingabe angesichts der plötzlichen Erkenntnis, dass ich seit Oktober nicht gebloggt habe und Gefahr laufe, den zweiten Monat in Folge Geld bei den Iron Bloggern History lassen zu müssen. Aber vielleicht ist die Idee gar nicht so schlecht, ein bisschen auf das Jahr 2017 und seinen Umgang mit Geschichte zurückzublicken. Jenen, die das wenig spannend finden, sei mit dem Claim des Technik-Tagebuchs geholfen: „Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren!“


Dresden, 1765. Ehrlich. Von Bernardo Bellotto.

Das Jahr ging los mit einem Tiefschlag: Am 17. Januar, in einem nicht besonders flüssig laufenden YouTube-Livestream des rechtsextremen „Compact-Magazins“, sprach Björn Höcke von Dresden aus laut Ankündigung über „Symptome und Kernprobleme unserer Zeit“, vor allem aber über Identitäts- und Geschichtspolitik der „Alternative für Deutschland“. Viel Neues sagte Höcke dabei nicht, aber er sagte es mit einer solchen Wucht, angefeuert von 500 wütenden ZuhörerInnen im Saal und so deutlich wie selten zuvor, dass die Bundesrepublik kollektiv erschrak über das, was da passiert war – so sehr, dass die wirklich allerallerletzte Vertreterin des gemäßigten Rechtsextremismus in der Partei, Frauke Petry, per zahnlosem Parteiausschlussverfahren eine zartrosa Linie in den Sand malte.


Doch nicht nur in Dresden wurde fleißig gehitlert: In Herxheim, einem pfälzischen Dorf, so klein, dass es mit dem Zusatz „am Berg“ vom 40 Kilometer entfernten Herxheim bei Landau abgegrenzt werden muss, hängt seit mittlerweile 83 Jahren eine Glocke, auf der „ALLES FUER’S VATERLAND – ADOLF HITLER.“ steht – was im Dorf wohl niemanden störte, weil es so gut wie niemand wusste. Als eine ehrenamtliche Organistin und – die Klischees triefen – pensionierte Musiklehrerin davon erfuhr und sich ans örtliche Meinungsmonopölchen „Rheinpfalz“ wendete, passierte erst einmal so gut wie gar nichts – Anfang Mai berichtete die Zeitung, eine Reporterin fand noch ein zweites, außen am Kirchturm eingemeißeltes Hakenkreuz, alle Beteiligten durften einmal ihren Standpunkt kundtun, und dann schwelte lange ein Aufmerksamkeitsbrand, der im Juli zu überregionaler Berichterstattung führte, eine Melange aus AfD-Thematik und Sommerloch, befeuert durch einen sichtlich überforderten Bürgermeister, der Johannes B. Kerners ewige Lehre „Autobahn geht gar nicht“ nicht beherzigte und sich weigerte, alles im Nationalsozialismus schlecht gefunden zu haben – ja mehr noch, der sich nicht zu schade war für diesen kurzen Dialog im RBB-Fernsehmagazin „Kontraste„:

„Es ist die einzige hier in Rheinland-Pfalz, ich glaube drei Stück gibt es in der ganzen Bundesrepublik, die diese Aufschrift tragen. Von daher kann man da nur stolz sein.“

„Also Sie sind stolz, dass Sie hier eine Hitler-Glocke hängen haben?“

„Ich würde sagen, wir sind stolz heute eine Glocke mit solcher Inschrift zu haben. Diese Glocke jetzt als Hitler-Glocke zu bezeichnen, das ist immer so negativ.“

Herxheim am Berg, Wappen. Keine Pointe.

So kam es wie es kommen musste: Die NPD (zu 16 TeilnehmerInnen) marschierte gegen den Schuldkult in Herxheim am Berg auf, GegendemonstrantInnen (200) kamen dazu, alle benahmen sich laut Polizei „vorbildlich“, der Gemeinderat forderte den Bürgermeister zum Rücktritt auf, der kam dem nach, eine Gutachterin (gelernte Glockensachverständige der Evangelischen Kirche der Pfalz) wurde bestellt, die ihre Expertise gleich einmal zur Schau stellte, indem sie wider besseren Wissens behauptete, die Glocke sei in der Region einzigartig – wie sie sagt, um die vier anderen Gemeinden in der Region zu schützen. Doch so langsam scheint sich die Angelegenheit zu befrieden: Das Gutachten, dem Vernehmen nach vier Seiten lang, wird im Januar diskutiert werden und wohl das Abhängen der Glocke empfehlen. Die Kirche hat für solche Fälle mittlerweile einen Glockenfonds von 150.000 Euro aufgelegt, um zumindest das Finanzargument aus dem Weg zu räumen. Die einfachste Möglichkeit bleibt dabei am Ende fast undiskutiert, obwohl sie bei nahezu allen NS-Überbleibseln in heutigem Alltagsgebrauch verwendet wird: Weiterbenutzen, Schildchen dran. Kontextualisieren, erklären, glaubhaft distanzieren. Aber wie eigentlich immer geht es ja gar nicht wirklich um die Glocke, sondern um ein tiefes Unverständnis zwischen verschiedenen Arten, mit Vergangenheit umzugehen, wie hier, wiederum aus „Kontraste“, der örtliche Pfarrer unfreiwillig deutlich macht:

„Warum sollten wir sie jetzt abstellen?“

„Weil sie vielleicht für manche Menschen so ein bisschen wie die Stimme Adolf Hitlers rüberkommt? Zumindest sagt das ja diese Kritikerin …“

„Ja was rüberkommt ist ein zweigestrichenes C.“


Verschiedene Arten, mit Vergangenheit umzugehen, konnte man auch durch die neue US-Präsidentschaft beobachten: Die eine, die herkömmliche, die auf einer nationalen Erzählung von Freiheitswunsch und Neuer Welt beruht und die in den letzten Jahrzehnten endlich auch die Geschichte der in dieser Neuen Welt unterdrückten Menschen hört – und die andere, nun im Oval Office sitzende, die sich nicht einmal dazu durchringen kann, entscheidende Persönlichkeiten der US-Geschichte zu kennen, die nicht Washingtonjeffersonjacksoneisenhower heißen:

„Frederick Douglass is an example of somebody who’s done an amazing job and is getting recognized more and more, I notice.“

Douglass mag in Deutschland kein großer Name sein, in den USA hingegen gehört er letztlich gleichberechtigt neben Abraham Lincoln zu den größten Treibern der Abschaffung der Sklaverei. Douglass war nicht nur ein Politiker und was wir heute einen Lobbyisten oder Aktivisten nennen würden, sondern auch in Zeiten einer systematischen rassistischen Unterdrückung der erste prominente Schwarze der USA, der solch eine intellektuelle und rhetorische Wucht entfalten konnte, wie es sich die weiße Mittel- und Oberschicht in Süden wie Norden nicht hatte vorstellen können. Douglass starb 1895, aber daran lavierte der Präsident derart offensichtlich vorbei wie an jeder konkreten Äußerung über dessen Tätigkeit. Der verpflichtende „Black History Month“ wurde erst eingeführt, als Trump 32 Jahre alt war. Man merkt es.


Diese Abbildung einer Buchhandlung von
Johannes Jelgerhuis hat nichts mit dem Thema zu tun, war aber zu schön, um sie rauszulassen.

Mitten in diese ganze gewollte und ungewollte Geschichtspolitik knallte ein Fall, der sich schnell als „Causa Reitzenstein“ verbreitete: Das für HistorikerInnen unverzichtbare Ankündigungs- und Rezensionsportal H-Soz-Kult depublizierte eine Buchbesprechung, nachdem der besprochene Autor mit dem Anwalt gefuchtelt hatte, publizierte aber gleichzeitig eine nahezu gleich lautende zweite Rezension der Herausgeber, wohl verbunden mit der Hoffnung auf einen (dann ausbleibenden) auszufechtenden Rechtsstreit. Reitzenstein ging es um einen Absatz, den man auf zweierlei Art und Weise lesen kann, das in solchen Fällen berüchtigte Hamburger Landgericht schloss sich seiner Interpretation für eine einstweilige Verfügung an, und das alles letztlich mutmaßlich nur, weil Reitzenstein es sich nicht bieten lassen wollte, seine Antwort auf die Rezension an gleicher Stelle vor der Veröffentlichung von der Redaktion prüfen und ggfs. redigieren zu lassen. Der ursprüngliche Rezensent selbst hielt sich weitgehend bedeckt, das Portal auch, Reitzenstein hingegen scheint ein wenig Vergnügen an der Aufmerksamkeit gefunden zu haben und befeuerte mit teils ironischen, teils informativen, teils unendlich selbstmitleidigen Texten die Debatte immer und immer wieder. Eher unfreiwillig lenkte er den Blick auf das ungewöhnliche Konstrukt der Erstveröffentlichung seiner zur Debatte stehenden Dissertation, die augenscheinlich in seinem eigenen Verlag erschienen war, der nur seine eigenen Bücher vertreibt, die in keiner der beiden deutschen Nationalbibliotheken nachgewiesen sind. Aber wir schweifen ab.


Buschwerk im Rose Garden des Weißen Hauses

Meister im Abschweifen war auch Sean Spicer, dieser längst vergessene, als sich in Hecken versteckende Witzfigur doch in Erinnerung bleibende frühere Pressesprecher des Weißen Hauses, der trotz eines Master-Abschlusses am „Naval War College“ so beeindruckend wenig Gespür für Worte zeigte, dass er das perfekte Aushängeschild der neuen Regierung wurde. Dass man ihm allerdings sein Gestotter über Giftgas als Holocaustleugnung auslegte, war zu viel des Schlechten:

You look — we didn’t use chemical weapons in World War II. You had a … someone as despicable as Hitler, who didn’t even sink to using chemical weapons. […] I think when you come to sarin gas, there was no — he was not using the gas on his own people the same way that Assad is doing. I mean, there was clearly. […] There was not — he brought them into the Holocaust center — I understand that. But I’m saying in the way that Assad used them, where he went into towns, dropped them down to innocent — into the middle of towns. It was brought to it, so the use of it and I appreciate the clarification and that was not the intent.

Alles, was Sean Spicer sagen wollte, war: Giftgas, chemische Kriegsführung, ist schrecklich, so schrecklich, dass die USA nie, sogar das Dritte Reich nicht solche Mittel im Zweiten Weltkrieg einsetzte, Assad nun aber schon. Das Problem: Spicer hatte keine Ahnung, und Spicer wusste nicht wie man aus Wörtern Sätze bildet. Und weil er das mittendrin plötzlich merkte, wurde er auch noch nervös und begann, Begriffe wie „concentration camp“ zu vergessen, sagte stattdessen „holocaust center“ und vervielfältigte damit die fatal weit verbreitete Annahme, der Holocaust habe sich zum allergrößten Teil an zentralen Orten wie Auschwitz ereignet und nicht über weite Teile des Kontinents, und er vervielfältigte das abgrundtief falsche und moralisch verabscheungswürdige Vermengen des Zweiten Weltkrieges mit dem Holocaust, ganz so als ob es einen Krieg zwischen „Deutschen“ und „Juden“ gegeben hätte. Es hätte viel zu kritisieren gegeben, doch wie Debatten so sind, konzentrierte man sich auf das Geschrei einer angeblichen Leugnung der Ermordung von jüdischen Menschen durch Gas.

Never attribute to malice that which is adequately explained by stupidity.


Zu Teil 2 des viel zu lang geratenen Jahresrückblicks 

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© 2023 Moritz Hoffmann

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